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Die Kurzgeschichte „Abenteuer eines Weichenstellers“ stammt aus der Feder von H. C. Artmann.

  1. Die Verantwortung eines weichenstellers der Union Pacific Ges. ist eine große, ihm obliegt die sorge um mensch und vieh, aber auch sachschaden hat er tunlichst zu vermeiden.
  2. Der weichensteiler besitzt ein buch, in dem er immer liest, 10 jahre besitzt er dieses buch, aber er beginnt nach seite 77 jedesmal wieder von vorne, weiter würde er es nie lesen, er hat da so eine vorahnung. Blödsinn, murmelt er, und beginnt trotzdem wieder bei seite 1.
  3. Die meiste zeit aber raucht er seine geliebte pfeife, er hat keine frau, er sieht den ersten stern am abendhimmel aufglänzen, er geht in das intime grün der brennesseln hinter dem haus austreten, er ist sonst ein frühaufsteher und trinkt nach dem essen ein bier.
  4. Der letzte zug kommt stets um 21 uhr 35 durch, er sieht den letzten waggon in der ferne verschwinden, der bremser hat ihm zugewinkt, er ist seit Jahren sein freund, obgleich er noch nie mit ihm gesprochen hat.
  5. Das buch des weichenstellers ist ein alter penny-shocker mit dem titel Der Mann vom Union Pacific Express. Heute beschließt er, den roman bis ans ende zu lesen, doch es schwant ihm nichts gutes.
  6. Einmal stand ein fremder bremscr auf der hinteren plattform des letzten waggons; ob er ein aushelfer war?
  7. Gegen 23 uhr wird der weichensteller durch einen ungewöhnlichen lichtschein aufmerksam, er geht vor das haus und sieht einen zug anrollen, der in keinem fahrplan verzeichnet steht, er rollt vollkommen lautlos an ihm vorbei, auf der plattforrn des letzten waggons steht der fremde von damals und bläst mundharmonika.
  8. Der weichensteller reibt sich die augen, ihm kommt das alles eigenartig vor, er ist ja ganz allein, er geht ins haus zurück, er trinkt ein extrabier und verklebt die Seiten 78 bis 126 mit kleister. So, meinte er, wäre es das beste.

Quelle: H. C. Artmann, Fleiß und industrie (mit Frankenstein in Sussex). Frankfurt am Main 1969 (es 320)