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Die Parabel "Kleine Fabel" (1920) über eine verzweifelte Maus von Franz Kafka (1883 - 1924) wurde postum von seinem Herausgeber Max Brod veröffentlicht, der ihr auch den Titel gab.

Inhalt

Text

„Ach“, sagte die Maus, „die Welt wird enger mit jedem Tag. Zuerst war sie so breit, daß ich Angst hatte, ich lief weiter und war glücklich, daß ich endlich rechts und links in der Ferne Mauern sah, aber diese langen Mauern eilen so schnell aufeinander zu, daß ich schon im letzten Zimmer bin, und dort im Winkel steht die Falle, in die ich laufe.“ – „Du mußt nur die Laufrichtung ändern“, sagte die Katze und fraß sie.

Inhalt

Die Maus läuft wie hypnotisiert einer Falle entgegen, als gäbe es keinen anderen Weg. Der Rat der Katze, doch die Richtung zu ändern, könnte per se der Rat eines Freundes sein, der einen Ausweg zeigen möchte. Nur zu diesem Zeitpunkt und von der Katze vorgebracht ist er zynisch und sinnlos. Man spricht daher von einer „kafkaesken Situation“. Denn nicht die Falle ist die Gefahr, sondern die sich unbemerkt heranschleichende Katze selbst. Die Falle stand einfach nur da.

Analyse

Es handelt sich bei der Kurzgeschichte nicht um eine Fabel im traditionellen Sinn, sondern um eine Erzählung, die dem Leser den Täuschungscharakter aller Auslegungen vor Augen führt. Der Titel enthält eine Gattungsbezeichnung, die den Text in die Reihe der didaktischen Tiergeschichten (siehe auch: Der Löwe und die Maus) stellt.

"Wie die Fabel ist die Parabel eine Form allegorischer Rede. Sie zielt auf die Verbildlichung unanschaulicher Gedanken, indem sie eine Übertragung eines allgemeinen Sachverhalts in eine anschauliche Erzählung leistet. Wie die Fabel enthält die Parabel einen Bildteil und einen Sachteil. […]
Die Beziehung von Bild- und Sachteil ist anders als in der Fabel. Innerhalb des Bildteils finden sich keine eindeutig zu entschlüsselnden semantischen Indikatoren des gemeinten Sachverhaltes. Der Gleichnischarakter der Parabel ergibt sich nicht bereits explizit aus dem Bildteil wie in der Fabel; die Relation zwischen Bild- und Sachteil muss im Denkvorgang der Analogie erschlossen werden. Entweder können einzelne semantische Indikatoren innerhalb des Bildteils Hinweise auf das Gemeinte geben, oder die Beziehung von Gesagtem und Gemeintem muss vom Autor im nachgestellten Sachteil selbst formuliert oder vom Leser ermittelt werden."
Quelle: Monika Schrader "Deutsch in der Oberstufe", Paderborn: Schöningh 1998.

Es gibt einen ausführlichen Brief (Dezember 1917), in dem Kafka seinem Freund und Vertrauten Max Brod auf 4 Seiten seine panische „platte Angst“ vor Mäusen beschreibt:
„Gewiss hängt sie wie auch die Ungezieferangst mit dem unerwarteten, ungebetenen, unvermeidbaren, gewissermaßen stummen, verbissenen, geheimabsichtlichen Erscheinen dieser Tiere zusammen, mit dem Gefühl, dass sie die Mauern ringsherum hundertfach durchgraben haben und dort lauern, dass sie sowohl durch die ihnen gehörige Nachtzeit als auch durch ihre Winzigkeit so fern uns und damit noch weniger angreifbar sind.“ (in: Stefan Koldehoff: »Stumm, verbissen, geheimabsichtlich« (siehe auch: Von den Gleichnissen).

Interpretation

Wilhelm Emrich (Auszüge)

Diese Erzählungen sind reine Tiergeschichten in dem Sinne, dass nicht mehr Tier und Mensch konfrontiert werden, sondern ausschließlich die Tierebene eingehalten wird. Alles wird unter dem Blickpunkt der Tiere erzählt. Die Menschenwelt tritt nicht in Erscheinung, selbst nicht bei Hunden und Mäusen, die doch räumlich innerhalb einer Menschenwelt leben. Andererseits aber leben und reflektieren diese Tiere die Probleme der Menschen. Die Tiere werden nicht etwa auf dem Boden einer zoologischen Tierpsychologie geschildert, im Bemühen, das Eigenleben der Tiere zu gestalten Dennoch wäre es falsch, diese Tiere Kafkas einfach mit Menschen zu identifizieren, in ihnen eine Weiterbildung der Äsopischen Fabeln zu sehen, in denen Tiere menschliche Zustände spiegeln und moralische Weisheitslehren in Tierverkleidung ausgesprochen werden. Wenn Kafka hier ausschließlich Tiergestalten wählt, so hat dies anderen, künstlerischen Sinn:
Diese Tiere manifestieren - wie alle Tiere Kafkas - einen Zustand, in dem die verdeckenden Hüllen der begrenzten empirischen Vorstellungswelt des Menschen verlassen sind, in dem also die Ganzheit menschlichen Daseins unverhüllt ausbricht und damit zugleich die grundsätzlichen Antinomien dieses Daseins gelebt und durchreflektiert werden. Indem Kafka Tiergestalten zum Gegenstand seiner Darstellung wählt, versetzt er den Leser sofort auf eine andere Bewusstseins- und Daseinsstufe, in der die normale menschliche Welt überschritten ist, ähnlich wie in den Gerichts- und Schlossbehörden oder in den rätselhaften Vorgängen der Erzählung "Beim Bau der chinesischen Mauer".
(aus: Emrich, Walter: Franz Kafka, Frankfurt/M.: Athenäum-Verlag, 4. Aufl. 1965, S.151)

Klaus Doderer (Auszüge)

Klaus Doderer meint, dass in der Erzählung Kafkas eine Fabel entstanden ist aus "pointierter Handlung, dem Einsatz von surrealen Textfiguren und einer mitgeteilten Lebensweisheit". Mit seiner Auffassung widerspricht er dem Kafka-Biographen Wilhelm Emrich, der nicht annimmt, dass man in Kafkas Text eine "Weiterbildung der Äsopischen Fabel" sehen könne.

Das Leben einer Maus wird uns berichtet, vom Anfang bis zum Ende. Es wird ihr Weg beschrieben. Kommend aus einer angsteinflößenden Weite hat sie sich auf Mauern zubewegt, die allerdings ihre Bewegungsbreite immer stärker eingeengt und sie zuletzt in die ganz ausweglose Position eines Eingeschlossenen gebracht haben. Am Ende ist die Welt dreifach verschlossen: Der Gang endet im Zimmer (hinter ihr die verlorene Weite, vor ihr die Wand), vor der Wand steht in Laufrichtung die Falle und hinter ihr, jeden Ausweg verrammelnd, wartet gelassen die Katze. Das Leben der Maus endet im Rachen der Katze.

Was wir eben umschreibend als die Handlung der "Kleinen Fabel" zu rekonstruieren versucht haben [...] ist nun aber nicht von Kafka als Lebensgeschichte in einem folgerichtigen Nacheinander ausgebreitet. Vielmehr erfährt es der Leser aus dem kurzen Dialog zwischen den beiden Kontrahenten Maus und Katze. Der auf ein Minimum reduzierte epische Teil - will man nicht die Ankündigung der jeweiligen Rede ("sagte die Maus" - "sagte die Katze") hinzurechnen - steckt in den zwei Wörtern "fraß sie". Mit anderen Worten: Während die erzählte Zeit das Leben der Maus umschließt, beträgt die Erzählzeit die kurze Wechselrede im ausweglosen Zimmer und den Akt des Fressens. Uns gibt diese Diskrepanz zwischen den epischen Zeitlichkeiten insofern zu denken, weil hier in dieser Fabel nicht etwa das erzählte Leben den Akt des Fressens erklärt und begründet. Der Erzähler holt also gar nicht aus, um die Vorgeschichte eines Mordes darzustellen in der Absicht, Ursachen und Erklärungen für eine Katastrophe zu finden. Wir werden durch keine auch noch so karge Bemerkung auf die Feindschaft zwischen Katze und Maus verwiesen, keine Andeutung bereitet uns auf die Tat der Katze vor, etwa dass sie sich duckte, dass sie auf ihr Opfer zuspringt, gierig wird oder hungrig ist. Die von Kafka genutzte Kargheit ist Stilprinzip und Regulativ im Hinblick auf die Atmosphäre in der von ihm erzeugten poetischen Eigenwelt. Die Kargheit allein ist eine Abwehr gegen psychologische Intentionen in die Welt der Fabel. [...]

Nicht umsonst wird wohl Kafka das, was er in der Geschichte zum Ausdruck bringen wollte, in die Form einer Wechselrede gebracht haben. Diese ist dazu angelegt, die gegeneinander gerichteten Gedanken verschiedener Figuren zum Ausdruck zu bringen. In unserem Fall erteilt die Katze als Gesprächspartner der Maus den Rat, die Laufrichtung zu ändern. Einen einleuchtenderen Rat kann man sich nicht denken. Er folgt ja auf die Äußerung der Maus über die für sie ausweglose Situation. Aber zwischen Rat und Tat, zwischen verbalem Helfen und existentialem Verschlingen ist eine schlechthin unüberbrückbare Spanne, die der Dichter [...] in einen Satz zusammen rückt. Schon dieses gelungene Kunststück der schockierenden Pointe gibt uns Anlass, die Geschichte nicht nur als Geschichte hinzunehmen, sondern ihr Transparenz und Bedeutung zu unterschieben. Dass hier am Ende Sinnlosigkeit sichtbar wird, provoziert die Suche nach dem Sinn des Gesagten durch den Leser. Was also wird in der Fabel an Aussage bedeutsam? Die Maus hatte Angst, als es um sie weit war, sie suchte nach Begrenzung. Deshalb war sie glücklich, als sie Mauern sah. Aber diese Begrenzungen engten ihre Freiheit immer mehr ein, sie führten, zunächst das Gefühl von Sicherheit gebend, zu immer größerer Fesselung. Die Maus wendet sich in ihrer Not an den Nächsten, den Einzigen neben ihr, den uns die Fabel präsentiert. Dieser Andere macht ihr den Ausweg einsichtig, aber offeriert ihr zugleich auch brutal die Unbegehbarkeit. Der Ausweg ist nur denkbar, nicht aber begehbar. Die Angst der Maus ist im Bilde gesehene menschliche Angst, die Angst vor der richtungslosen Weite, die Angst vor der uns in Sackgassen führenden Welt, aus denen uns Helfer herausleuchten wollen, diese aber sind wiederum "Sackgassen" beziehungsweise Mausefallen. Es gibt hier keinen Weg zurück und keinen nach vorwärts. Überall stehen Fallen; wohin wir uns auch wenden, wir bewegen uns auf den Abgrund zu.

Das Großartige dieser Fabel ist nun, dass sie diesen Gedanken der [...] Ausweglosigkeit in den letzten beiden Worten nicht vordiskutiert, sondern beweist. Allerdings nur im Bild. [...]
(aus: Doderer, Klaus: Fabeln. Formen, Figuren, Lehren. München: dtv 1977, S. 35f.)

Hans-Christoph Nayhauss (Auszüge)

Die nachfolgende Interpretation ist im schwierigen Stil der sogenannten Frankfurter Schule verfasst. Zu ihr gehören u.a. Philosophen und Soziologen, die nach 1968 die literatur-wissenschaftliche Diskussion beherrschten. Von Nayhauss geht von der Annahme aus, dass man bei dem Wort Fabel unwillkürlich daran denkt, was die Gattung zur Zeit ihrer Blüte, also im achtzehnten Jahrhundert, bedeutet hat. Für den heutigen Leser / Rezipienten entsteht dadurch eine Verunsicherung, dass er der Fabel Kafkas keine Lehre zu entnehmen kann, keine Lebensanweisung, wie sie sonst bei der Textsorte üblich. Sie hat, nach Nayhauss keine "zivilisatorischen Effekte", spiegelt keine "selbst- und fremdzwänge" wider, also auch keinerlei zeitgebundene Verhaltensregeln und -Vorstellungen, die man sich auferlegt oder die einem auferlegt werden, weil es so üblich oder Sitte ist.

Von der Gattung Fabel ist die Rede; das Attribut "klein" tritt zunächst hinter diesem Leitwort zurück. Aufgrund welcher Elemente der Form und des Aufbaus der Fabel, wie sie traditionellen Vorstellungen entsprechen, konnte Brod den Text als kleine Fabel einordnen? Es treten Tiergestalten auf als Spieler und Gegenspieler. Letzeres hat einen antithetischen Aufbau zur Folge. Die Handlung setzt ohne Umschweife ein. Das Geschehen endet mit der Niederlage des einen und dem Sieg des anderen Parts. Der Dialog ist alleiniger Handlungsträger. Der Text enthält eine Lehre, die häufig zugleich zur Pointe wird. Die Bildhälfte der Fabel hat dabei die Sachhälfte zu unterstützen, d.h., die Lehre zu veranschaulichen. Es soll also nichts verrätselt werden wie bei der Allegorie. Soweit die Hauptkennzeichen der Gattungsform! Sie mögen Brod veranlasst haben, den Text als Fabel zu überschreiben. [...]

Liegt nach diesen Feststellungen im Sinne der Fabel nun auch "ein typischer Fall vor, der als Beispiel für viele Fälle gilt und hier in ein besonderes Gewand gekleidet ist"? Oder, um es mit Lessing Fabel-ideologisch zu sagen, wird hier einem besonderen falle Wirklichkeit erteilt und eine Geschichte daraus gedichtet, "in welcher man den allgemeinen (moralischen) Satz anschauend erkennt" (Lessing)? Wenn Lessing demonstrativ von dem allgemeinen Satz spricht, kann er sich auf ein allgemein als gültig postuliertes Moral-, Wert- und Ordnungsgefüge als Bezugspunkt aller menschlichen Verbindlichkeiten stützen. Die Konsequenz dieser Anschauung beruht darin, dass man glaubt, die allgemein gültige Wahrheit enträtseln, entschlüsseln zu können. [...]

Das im 18. Jahrhundert propagierte Ordnungsgefüge hatte zivilisatorische Effekte. Die Lehre hingegen, die Kafkas Katze der Maus erteilt, ist nur egoistischen Zwecken. Sie ist aus der Perspektive einer von Katzen bestimmten Welt gesprochen, die den Mäusen keinen Raum lässt. [...]

Haben wir hier im traditionellen Fabelsinne einen Dialog vor uns? Wir erfahren im ersten Teil nichts von einem Dialogpartner. Es heisst: "Ach, sagte die Maus,...". Wie erfahren nicht, dass sich die Maus dabei an jemanden wendet, wie es in der Fabel sonst üblich ist, damit man die Konfliktsituation sofort überblickt. Hier referiert und reflektiert die Maus ihr Leben und ihre Situation. Deren Kennzeichen sind Orientierungslosigkeit und Angst. Beide aber sind als bedrängende Fixierung nur aus der subjektiven Sichtweise der Maus verständlich. Daher ist die Klage letztlich monologisch, Selbstgespräch mit dem fixierten und sich permanent fixierenden eigenen Bewusstsein. Ebenso bleibt die Katze monologisch, die freilich aus anderem Grund für sich spricht. Sie spricht für sich aus persönlichem Nutzen, egoistisch, ohne Bezugnahme auf etwas intersubjektiv verbindliches. Ihre Äusserung ist allein den Absichten und Zwecken des persönlichen Bewusstseins verhaftet [...]

Aus der Notwendigkeit, eine persönliche Wahrheit produzieren zu müssen, um überhaupt Leben zu können, sucht die Maus nach richtungsgebenden Mauern. Sie produziert die Mauern selbst, sie sind Produkte ihres Wunschdenkens. Als Ausstrahlung ihres individuellen Bewusstseins gewinnt jedoch dieser Schein der Dinge zugleich etwas vernichtendes, die Maus tödlich fixierendes. Kafka bezeichnet daher diesen Schein der Dinge als das Böse. Da das Bewusstsein der Fabelfigur immer nur Ansichten von den Dingen besitzt, kann noch will es letztlich die wahre Situation erkennen. Objektiv gibt es also keine Weite und keine Mauern, sondern diese sind subjektive Wahrheiten, sie sich das Bewusstsein selber von seiner Situation geschaffen hat. Kafka entlarvt hier den verinnerlichten seit der Romantik als selbstschöpferisch gepriesenen Subjektivismus in seiner ganzen Gefährlichkeit.
(aus: Nayhauss, Hans-Christoph; Franz Kafkas "Kleine Fabel", in: Wirkendes Wort, 24. Jg., 1974, S. 242-245)